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Geschädigten Nerven zum Nachwachsen verhelfen

10. Juni 2020

Durchtrennte Nervenbahnen sind sehr schwer zu behandeln. Wenn überhaupt, kann der Schaden bisher nur durch aufwendige Operationen behoben werden. Am Max-Planck-Institut für Polymerforschung haben wir Materialien entwickelt, die geschädigte Nerven zum Wachstum anregen. Ergebnisse aus ersten Tests an Mäusen zeigen, dass sich Nervenbahnen auf diese Weise regenerieren können.

Text: Christopher V. Synatschke / Tanja Weil

Haben Sie schon einmal versucht, einen Stift ohne Daumen zu halten? Dann werden Sie wissen, wie schwierig das ist. Was wie eine interessante Fingerübung erscheinen mag, ist für viele eine bittere Realität. Werden Nervenbahnen infolge eines Verkehrsunfalls oder Arbeitsunfalls beschädigt oder komplett durchtrennt, können einzelne Gliedmaßen oder sogar ganze Körperteile taub werden und oft nicht mehr bewegt werden. In der Vergangenheit war die einzige Chance, ihre Funktionalität wiederherzustellen, eine Operation. Bei einigen Operationen werden Nervenstränge aus einem anderen Körperteil entfernt und an der beschädigten Stelle wieder eingesetzt. Auf diese Weise können die beschädigten Nervenenden wieder zusammenwachsen und dem betroffenen Teil ein gewisses Maß an Bewegung zurückgeben.

Wachstum erfordert Struktur

How damaged nerves can re-grow

© mattweis based on templates from the MPI for Polymer Research

How damaged nerves can re-grow
© mattweis based on templates from the MPI for Polymer Research

Although nerves may be able to bridge a severed connection, the process is extremely complex and not always erfolgreich. Darüber hinaus umgibt ein Gerüst aus Proteinen gesunde Nerven, und verletzte Nervenfasern hängen davon ab, dass dieses Gerüst intakt bleibt. Verletzungen schädigen jedoch oft nicht nur den Nerventrakt selbst, sondern auch diesen Rahmen. Diese sogenannte extrazelluläre Matrix bildet das Gerüst für Nervenbahnen. Genau wie Tomatenpflanzen ein Gitter brauchen, brauchen Nervenzellen diese Matrix, um nebenher zu wachsen. Am Max-Planck-Institut für Polymerforschung haben wir ein Material aus körpereigenen Bausteinen entwickelt, mit dem diese Matrix ersetzt werden kann. Und wie gezeigt, hilft das künstliche Gerüst den geschädigten Nerven, sich zu regenerieren. Die natürliche Matrix besteht aus bestimmten Proteinen: langkettigen Molekülen, die wie Wollknäuel gefaltet sind. Eine große Anzahl dieser winzigen Wollknäuel richten sich aus, um lange Fasern zu bilden. Diese verschiedenen Fasern bilden ein Netz – die extrazelluläre Matrix -, an die sich die Nervenzellen anlagern können.

Lego-build–Fasern

Damit sich diese Proteine bilden können, müssen im Körper zahlreiche komplexe biochemische Prozesse ablaufen – zu komplex, um sie im Reagenzglas nachzubilden. Unsere Forschung verfolgt einen anderen Ansatz: Obwohl wir die gleichen Grundmaterialien verwenden, aus denen die extrazelluläre Matrix besteht, bauen wir sie in einer einfacheren Form zusammen. Wir verwenden kurzkettige Moleküle, sogenannte Peptide, die wie Proteine aus Aminosäurebausteinen bestehen. Wir produzieren diese Peptide mit chemischer Präzision, so dass wir die genaue Position jedes einzelnen Bausteins bestimmen können.

Um eine Analogie zu verwenden: Unser präzises chemisches Design erzeugt ‚Bolzen‘ und entsprechende ‚Löcher‘ auf den Molekülen, ähnlich wie bei Lego-Steinen. Zwei auf diese Weise synthetisierte Peptidmoleküle richten sich auf natürliche Weise so aus, dass sich Bolzen und Loch treffen. Dadurch entsteht eine stabile Struktur. Mit dieser Technik konnten wir lange Fasern herstellen, die trotz ihrer unterschiedlichen mikroskopischen Struktur in Form und chemischer Zusammensetzung stark den Fasern der extrazellulären Matrix des Nervs ähneln.

Vom Reagenzglas zur Maus

Wie verhalten sich Nervenzellen, wenn sie auf dieser künstlichen extrazellulären Matrix wachsen sollen? Wie ändern sich diese Wachstumseigenschaften, wenn wir die ursprünglich verwendeten Peptide verändern? Diesen Fragen sind wir in Zusammenarbeit mit unserem Partner Bernd Knöll, Professor am Institut für Physiologische Chemie der Universität Ulm, nachgegangen. Wir produzierten verschiedene Peptidstrukturen, deponierten sie auf Glassubstraten und kultivierten darauf Nervenzellen. Während die Nervenzellen auf einigen Faserstrukturen kaum wuchsen, sahen wir auf anderen die schnelle Bildung von Axonen, dünnen Vorsprüngen, die die Verbindungen zu anderen Nervenzellen herstellen.

Gemeinsam mit unseren Kollegen an der Universität Ulm haben wir dann an Tiermodellen getestet, welche Faserstruktur das beste Wachstum von Nervenzellen unterstützt. Wir haben den Gesichtsnerv einer Maus auf einer Seite chirurgisch durchtrennt, der die Bewegung ihrer Schnurrhaare steuert. Wir nahmen dann die faserbildenden Peptide und injizierten sie in die Lücke im Nerv. Nach 18 Tagen konnte die Maus ihre Schnurrhaare wieder einigermaßen bewegen; die Nervenbahnen waren offenbar wieder zusammengewachsen.

Da die in unseren Kunstfasern verwendeten Peptide den natürlichen Proteinen in der extrazellulären Matrix ähneln, hoffen wir, dass das Material während des Heilungsprozesses zwar an Ort und Stelle bleibt, der Körper es dann aber mit der Zeit abbauen kann. Bisher konnten wir zeigen, dass das an der Injektionsstelle verbleibende Material langsam abnimmt. Ob dies jedoch auf den biologischen Abbau oder die Verteilung im Körper zurückzuführen ist, bedarf weiterer Untersuchungen.

Bahnbrechende Eigenschaften

Wie das Laborexperiment an Mäusen gezeigt hat, können anfängliche Schäden an Nervenbahnen mit unserer künstlichen Matrix repariert werden. Vor dem Einsatz des Materials in klinischen Anwendungen ist jedoch eine weitere Optimierung erforderlich, da die Nervenzellen auf unserem Material noch nicht so gut wachsen wie in der natürlichen Matrix. Sie wachsen auch ziemlich ungeordnet in alle Richtungen. Unser nächster Schritt wird sein, sogenannte Wachstumsfaktoren in die künstliche Matrix einzubetten, um den Heilungsprozess weiter zu beschleunigen. Darüber hinaus wollen wir die injizierten Faserstrukturen so ausrichten, dass die Nervenzellen in eine bestimmte Richtung wachsen können.

Wir sind zuversichtlich, dass unsere künstliche extrazelluläre Matrix eine gute Alternative zu komplexen Operationen bei kleineren Verletzungen der Nervenbahnen darstellen könnte. Weitere Forschung könnte auch zu einer Methode führen, nicht nur Verletzungen des peripheren Nervensystems, sondern auch des zentralen Nervensystems zu behandeln.